Castle in front of a thunderstorm. Utopian energetic setting

Der Flaschenhals -
Keine Utopie ohne Energie

28.07.2022

Es gibt keine realistische Utopie ohne einen mit ihr einhergehenden intensiven Energieaufwand.
Oder noch schärfer: Energiearme Utopien sind Dystopien.

Der Weg zur Utopie

Eine neue Gesellschaft zu formen, eine bessere Zukunft zu schaffen – Anliegen, die Visionäre und Denker seit Jahrtausenden beschäftigen. Der Idealzustand ist ein utopischer Traum: Ein besseres Leben für alle. Sicherlich: Eine allgemeingültige und anerkannte gesellschaftliche Utopie muss erst gestrickt werden. Alle bisherigen Versuche scheiterten spätestens an der Praxis. Ob es überhaupt das Garn, das Strickmuster gibt, das allen Menschen gleichermaßen gefällt, ist eine Streitfrage. Wer diese Streitfrage mit „Nein“ beantwortet, knüpft in der Regel seine ganz eigene Welt- und Wertevorstellung in den roten Faden seines Lebens. Letztendlich finden einzelne Stränge wieder in Gruppierungen zusammen, so auch heute. Sei es in posthumanistischen Fantasien oder Umweltbewegungen, die das Bild einer besseren Zukunft zeichnen.

Energie als Allzweckmittel

Wie unterschiedlich die Wünsche und Vorstellungen der unterschiedlichen Strömungen auch sein mögen: Günstige und nachhaltige Energie ist für all diese ein Allzweckmittel. Per definition sind Allzweckmittel dazu geeignet, jedes denkbare Vorhaben zu ermöglichen oder
zumindest dessen Durchführung zu erleichtern. Gleichzeitig stehen sie mit keiner Idee grundlegend im Widerspruch. Konkret heißt das: Die VR-Brille ist genauso von Energie abhängig, wie das elektrisch betriebene Lastenfahrrad. Gleichzeitig werden sowohl die Umsetzung einer gewissensethischen Ökodiktatur als auch die posthumanistische Technokratie durch eine großzügige Energieversorgungslage nicht kategorisch behindert.
An dieser Stelle könnten die Ausführungen zu Energie schon aufhören, aber Energie ist noch mehr, denn: Allzweckmittel sind schön und hilfreich, aber nicht notwendig. Wie die folgenden Überlegungen zeigen, ist Energie vielmehr eine notwendige Bedingung, sogar der
Flaschenhals für das utopische Fortkommen.

Exkurs: Utopie, Eutopie, Dystopie

 Der aus dem altgriechischen hervorgegangene Begriff “Utopie” heißt auf deutsch übersetzt “Nicht-Ort” (ein von Thomas Morus im 16. Jahrhundert entwickelter synthetischer Begriff bestehend aus: altgriechisch οὐ/ou = „nicht“ und altgriechisch τόπος/tópos = „Ort“) und ist erstmal eine rein neutrale Umschreibung einer möglichen Gesellschaftsordnung, welche in der Regel in der Zukunft angesiedelt ist. Ergänzt wird dieser Begriff um Eutopie (altgriechisch εὖ /eu= „gut“) und Dystopie (altgriechisch δυς/dys = „ übel-/miss-“).  Eutopie steht symbolisch für eine wünschenswerte (zukünftige) Welt, wohingegen Dystopie eine schlechte Version oder auch “Anti-Utopie” widerspiegelt. Dass Eutopie und Utopie häufig synonym gebraucht werden, liegt nicht zuletzt daran, dass im Englischen ‘utopia’ und ‘eutopia’ homophon sind.

Warum ist eine energiearme Zukunft nicht möglich?

Dass Energie bzw. Energieversorgung ein essentieller Grundpfeiler unserer Gesellschaft sind, klingt im Europa des Jahres 2022 wie eine Binse. Allerdings muss man monieren, dass wichtige Entscheidungsträger diesen Sachverhalt insbesondere in den Jahrzehnten nach der Jahrtausendwende zumindest in Deutschland nicht mit der nötigen Rationalität betrachtet haben. Der Gedanke, dass Energie eine notwendige Voraussetzung für das Funktionieren von Gesellschaften ist, scheint nicht bei allen Lenkern angekommen und damit kein Allgemeinplatz
zu sein.
Zurück zur Zukunft: Wenn für eine konsensfähige Eutopie ein Kriterium darin besteht, die Grundbedürfnisse eines jeden Menschen zu erfüllen, gibt es keine Möglichkeit, dies ohne einen hohen Energieaufwand zu ermöglichen. Denn:

1. Um mit den globalen Herausforderungen fertig zu werden, ist langfristig der Einsatz verschiedener Technologien von Nöten, um die Bewohnbarkeit des Planeten zu erhalten.

2. Kultureller Fortschritt wird in unserer Zeit wesentlich vom internationalen Austausch befeuert, sei es digital oder analog. Damit ist der Einsatz von energieintensiven Technologien verbunden.

3. Eine lokale Eutopie wird in einer vernetzten Welt Nachahmer finden. Langfristig wird sie also nur als globales oder zumindest internationales Modell Bestand haben, was wiederum eine drastische Erhöhung des Lebensstandards bei einem Großteil der Bevölkerung nach sich ziehen würde; Punkt 1 und 2 vorausgesetzt, geht damit ein erhöhter Energiebedarf einher.

4. Endliche Ressourcen werden auch in Zukunft ein Teil der Welt sein. Nicht für jeden Rohstoff gibt es ein nachwachsendes Substitut. Langfristig muss also sehr viel Energie darin investiert werden, entsprechende knappe Rohstoffe innerhalb von Verwertungskreisläufen energieintensiv zurückzugewinnen.

Günstige Energie gutzuheißen bedeutet übrigens nicht, dass der allgemeine Energieverbrauch nicht gesenkt werden sollte. Dies nicht zu tun wäre insbesondere dann schädlich, wenn man die günstige und nachhaltige Energieform noch nicht massentauglich etabliert hat. Auch die Energieffizienz bestimmter Technologien zu erhöhen – zum Beispiel mithilfe von Einzelatomtransistoren –, kann einen positiven Effekt haben.

Utopische Gedankenexperimente

1. Wäre Energie annähernd kostenlos verfüg-bar, könnte der Einsatz von Wasseraufbereitungs-anlagen das Leben von einem Großteil der Weltbevölkerung schlagartig verändern.

Zur Veranschaulichung: Die feuchtgrünen Wüstenträume der ölreichen Golfstaaten sind ohne den Einsatz Wasserentsalzungslagen nicht vorstellbar. Mehr als 50% der weltweiten Meerwasseraufbereitungskapazitäten tragen hier dazu bei, eine karge Wüstenregion in einen zumindest ver-sorgungstechnisch hochentwickelten Lebensraum zu verwandeln.
Der Wüstentraum hat seinen Preis. Nicht nur, dass die Anschaffungskosten einer Anlage in die Millarden gehen können – für einen Kubikmeter gewonnenes Trinkwasser werden in modernen Anlagen etwa 2-4 kWhH Energie benötigt. Zum Vergleich: Das hierzulande aus Quellbrunnen beförderte Wasser gibt es schon für weniger als einen Zehntel dieser Energie.

Wasser Ressourcen

2. Eine allgemeine Rohstoffknappheit ist eine globale Herausforderung, die fortlaufend größer wird, da sich insbesondere im asiatischen Raum mehr und mehr Menschen den Lebensstandard einer Industrienation wünschen. Günstige Energie kann durch Recyclingprozesse dazu beitragen, diese Knappheit zu mindern.
Ob seltene Erden und Metalle in der Produktion von Elektronikteilen oder Sand zum Betonmischen – der endliche Rohstoffvorrat wird ein immer größeres Problem. Wenn sich der Verbrauch nicht reduzieren lässt, da der Bedarf weltweit größer wird, müssen Lösungen her. Eine Möglichkeit bieten aufwendige Recyclingverfahren, die je nach Prozess sehr energieintensiv sind; insbesondere dann, wenn der jeweilige Stoff im Produkt verbaut ist oder gar in Verbindungen vorkommt (wie zum Beispiel Antriebsbatterien in E-Autos).
Auch Überlegungen, den strukturschwachen Wüstensand aufzubereiten, um ihn als Bauträger nutzen zu können, kommen nur mit hoher Energie aus. Ein Einsatz besteht darin, die Struktur des Wüstensandes zu künstlichen Clustern zu granulieren, was bisher nur mit entsprechenden energieintensiven Hochgeschwindigkeitsmischern durchgeführt werden kann.
All diese Überlegungen stehen vor dem Hintergrund, dass große Teile des bevölkerungsreichsten Kontintents, Asien, noch längst nicht den Lebensstandard erreicht haben, welchen die dort ansässigen Bevölkerungen über die sozialen Medien aus den westlichen Ländern verbildlicht bekommen. Ein Faktor, der die Rohstoffknappheit um ein Vielfaches multiplizieren wird.

Warum ist eine energiearme Zukunft dystopisch?

Es ist richtig, dass Flug- und Schiffsverkehr verheerende Auswirkungen auf die Ökologie des Planeten haben. Die vermeintliche Lösung: Regional statt global, Gemüse vom Bauern nebenan, Urlaub auf Balkonien.
Prinzipiell ist es in einer globalisierten Welt mit ihren Abhängigkeiten und Lieferketten wichtig, sich auf die eigene Regionalität zurückzubesinnen. Die Körperlichkeit des eigenen Daseins verliert sich nur allzuoft in der weltweiten digitalen Vernetzung, in welcher der menschliche Geist seine Erweiterungsform erfährt.

Dennoch: Das eigentliche Problem des in den Verruf geratenen Ferntourismus liegt nicht genuin in ihm selbst. Im Gegenteil: Für einen vernetzten und aufgeklärten „digital citizen“ erscheint es unmöglich, sich heute noch offen kriegerisch dem Heimatland von Freunden und Bekannten zu nähern. Das Phänomen einer „postheroischen Gesellschaft“ wird durch die allgegenwärtige Vernetzung verstärkt.
Das wirkliche Problem ist, dass die eigentlichen Kosten viel höher sind, als der Marktpreis es abbildet. Sozial betrachtet ist es hingegen eine kulturelle Leistung, einen Flug zwischen zwei europäischen Hauptstädten für das Zweifache des Mindestlohns anbieten zu können: Aber es ist leider nur eine Scheinrechnung, die langfristig nicht aufgeht und am Ende teuer wird.

Gesetzt den Fall, dass Flugpreise nachhaltig ermittelt würden – damit ist nicht der moderne Ablasshandel per CO2 Kompensation gemeint – und weiterhin günstig angeboten werden könnten, wäre dies die wünschenswertere Utopie, als den internationalen Flugverkehr einzustampfen. Welch rückschrittlicher Gedanke.

Energie, die eine condicio-sine-qua-non?

Energie ist hier als Grundlage der materialistischen Seite von Utopien gesetzt. Der Mensch muss auch im Paradies leben wollen und dies auch seinem Nachbarn gestatten. Aber frei nach Brecht: Erst kommt das saubere Wasser, dann die Aufklärung. Oder nach Maslow: Menschen stillen erst ihre materialistischen Defizitbedürfnisse, bevor sie sich einer postmaterialistischen Visionsbildung zuwenden.
Aber sind es nicht gerade die in der Weltliteratur entworfenen Schreckensszenarien, die in ihrem dystopischen Schauer energiegetriebener Technokratien die wahre Menschlichkeit unterjochen?
Von einem allgemeinen Technikpessimismus zu einer Ablehnung energiebasierter Gesellschaften ist es ein kleiner Schritt, wenn auch ein fataler. Es ist unbestritten, dass beispielsweise eine technikgestützte Massenüberwachung ein energieintensives Unterfangen ist. Wenn man ehrlich ist, braucht es dafür keinen Blick in die Literatur, sondern nur den kritischen Blick in unsere Welt. Zwar ist Technik in ihrer Konzeption, also als Produkt menschlichen Handelns, selten komplett neutral; letztendlich wird die konkrete Bedeutung von Technik jedoch immer von außen in sie hineingetragen.

Der Flaschenhals: heute gute Energie, morgen Eutopie?

Eutopien sind keine Narrative der Knappheit. Überfluss ist nichts schlechtes. Verschwendung und Maßlosigkeit hingegen sind Attribute, die weniger utopisch sind, aber häufig einen Platz innerhalb einer schwammigen Assoziationskette mit erstgenannten Begriffen einnehmen.
Verzicht kann immer nur eine Übergangslösung, aber nicht die Farbe eines positiven Zukunftsbildes sein.

Was ist also die Forderung, die hinter derartigen Überlegungen steht? Zunächst ergibt sich ein Bild einer Zukunft, welche auf energieintensive Technologien angewiesen sein wird. Im besten Fall sind diese nur aus der heutigen Sicht Energiefresser und in ihrer Energieffizienz zukünftig optimiert. Eine entelektrifizierte Gesellschaft, die der Technologie in einem blinden Ökowahn den Rücken kehrt, lässt sich getrost als gescheiterter und zugleich wenig attraktiver Entwurf verordnen.

Was sich daraus ableitet, ist ein Denkanstoss: Selbst dann, wenn man nicht weiß, wie die Welt in 50 Jahren einmal aussehen soll, können Entscheidungsträger, sei es in Politik oder Wirtschaft, sich sicher sein:  Die Welt «besser zu machen» oder zumindest in die «richtige Richtung zu lenken», gelingt immer dann, wenn Möglichkeiten geschaffen werden, die nachhaltige Energieversorgung zu verbessern.
Denn jeder Schritt in diese Richtung gleicht der Errichtung eines stabilen Fundamentes, welches nötig ist, um das gesellschaftliche Gebäude zu errichten, gleichwohl, wie die Architekten der Zukunft es auch konzipieren mögen.Wenn es allerdings einmal einen Zukunftsentwurf gibt, und dieser wird Energie benötigen – ist günstige und nachhaltige Energie genau der Weg durch den Flaschenhals, den man zur Eutopie auf sich nehmen muss.